GRUNDBAUSTEINE DES SPRENGEL MUSEUM HANNOVER UND SEINER KUNST
13.4.19 BIS FEBRUAR 2025
Erweiterungsbau
Zu seinem 40-jährigen Jubiläum präsentiert das Sprengel Museum Hannover im Erweiterungsbau die Ausstellung ELEMENTARTEILE. Was sind die Kernbestandteile der Institution? Was ist Kunst, und woraus besteht Kunst, worauf bezieht sie sich, und wovon handelt sie? In zehn Themenräumen befragt sich das Sprengel Museum Hannover als Institution und seine Sammlung nach solchen grundlegenden Fragen.
Welche Rolle spielt die Farbe als einer der Grundbausteine in der Kunst, welche Materialien nutzen die Künstler*innen, und nach welchen Form- und Gestaltungsprinzipien agieren sie? Auf welche Wirklichkeit(en) beziehen sich Werke zwischen Konzeptkunst, Abstraktion und Figuration? Welche Inhalte spielen dabei eine Rolle, welche Geschichten werden erzählt, wie spiegelt sich Geschichte in der Kunst? ELEMENTARTEILE lässt mehr als 150 Werke aus dem 20. Jahrhundert und der Gegenwartskunst aufeinandertreffen und zeigt ein beeindruckend breites Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten in Malerei, Skulptur, Grafik, Fotografie und Film von Künstler*innen wie Max Beckmann, Louise Bourgeois, Grethe Jürgens, Niki de Saint Phalle, Pablo Picasso und Gerhard Richter.
Das Sprengel Museum hannover
An seinem 70. Geburtstag, dem 17.4.1969, verkündete Bernhard Sprengel, dass er und seine Frau Margrit die gemeinsame Sammlung der Landeshauptstadt Hannover schenken wollen. 10 Jahre später wurde das „Kunstmuseum Hannover mit Sammlung Sprengel“ (1984 in „Sprengel Museum Hannover“ umbenannt) eröffnet, 1992 kam ein zweiter Bauabschnitt und 2015 ein Erweiterungsbau hinzu.
Das Sprengel Museum Hannover beherbergt alle Bestände aus den Sammlungen der Landeshauptstadt Hannover, des Landes Niedersachsen und der Sammlung Sprengel, die nach 1900 entstanden sind. Hinzu kommen Bestände der Kurt und Ernst Schwitters Stiftung, des Kurt Schwitters Archivs, der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, der Rudolf Jahns-Stiftung, der Stiftung Bernhard Sprengel und Freunde, der Hannover Rück Stiftung, der Fritz Behrens Stiftung und verschiedener anderer Stiftungen als Dauerleihgaben.
Kurator*innen: Reinhard Spieler und Stella Jaeger
#elementarteile
Die Räume
Farbe
Farbe ist das Herzstück der Malerei und darüber hinaus elementarer Bestandteil zahlreicher Gattungen wie Skulptur, Fotografie, Film, Zeichnung und verschiedenster Drucktechniken. Von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert erfolgte die Entwicklung der Malerei als eine zunehmende Fokussierung auf die Farbe als eigenes Bildmittel. Als schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts die Künstler*innen sich der Farbe als selbstständiges Motiv zuwandten, trat deren Eigenwertigkeit in den Blick. Gleichzeitig hat sich die über Jahrhunderte anhaltende Vorstellung, dass Farbe nur als Kolorit zum Flächenfüllen oder zur Formbegrenzung zu dienen habe, grundlegend geändert. Seit Farbe in der Malerei vom Zwang der wirklichkeitsgetreuen Darstellung befreit wurde, erproben sämtliche Künstlergenerationen das Verhältnis von Inhalt, Form und Farbe im Bild.
Als Mittel zur Abstraktion, aber auch als radikales Kompositions- und Ordnungsprinzip hat die Farbe bei den Konstruktivisten Josef Albers, Max Bill und Jean Gorin eine zentrale Rolle eingenommen. Bei den Expressionisten Emil Nolde und Ernst Ludwig Kirchner wurde die Farbe selbst zum Träger von Empfindungen. Künstler*innen wie Gerhard Richter setzen sich mit dynamisierten Farbverläufen und Abgrenzungsprozessen von Farbe auseinander, während Timm Ulrichs die Bedeutungsvielfalt bei der Wahrnehmung von Farbe zum Thema macht.
Material
Bis ins 20. Jahrhundert hinein war es vorrangige Aufgabe des künstlerischen Materials, den Ideen der Künstler*innen Gestalt zu verleihen. Wertvolle Stoffe wie Marmor oder Bronze sollten das Kunstwerk veredeln und unvergänglich machen. Mit Beginn der Moderne änderte sich das radikal: Kurt Schwitters – Pionier einer neuen ‚Materialkunst‘ – schuf ab 1919 Collagen aus Alltags- und Abfallmaterialien, die er ‚Merz-Kunst‘ nannte. Das Material diente nun nicht länger der Idealisierung des Kunstwerks. Es tritt stattdessen in seiner Vielfältigkeit und Sinnlichkeit in den Vordergrund. Vor allem ab den 1960er-Jahren greift eine neue Generation von Künstler*innen diesen Impuls auf: Dieter Roth schafft Skulpturen aus organischen Stoffen, César komprimiert einen kompletten PKW zu einer Skulptur. Textiles findet Verwendung bei Reiner Ruthenbeck, während Niki de Saint Phalle gefundene Alltagsobjekte in ihre Assemblagen integriert. Bei Félix González-Torres ist die Idee selbst das künstlerische Material, das sich gleichzeitig in einem leeren weißen Plakat materialisiert.
Form
Form und Gestalt von Kunstwerken sind kaum Grenzen gesetzt. Sie sind ebenso vielfältig wie die Formen von Natur und Wirklichkeit, darüber hinaus ist alles möglich, was die menschliche Fantasie erschaffen kann. Die Bandbreite reicht von organischen, der Natur – scheinbar – verwandten Formen, etwa bei Hans Arp, Alexander Calder oder Henry Moore, bis zu technisch konstruierten Formen, die so in der Natur nicht vorkommen. Sie stehen eher für eine mathematisch konstruierte (u. a. Wassily Kandinsky) oder technisch-industrielle Formensprache, zum Beispiel bei Donald Judd oder Shinkichi Tajiri. Bereits seit der italienischen Renaissance, verkörpert in der Konkurrenz zwischen den Schulen von Florenz und Venedig, gibt es den Gegensatz zwischen der Vorherrschaft der Linie und derjenigen der Farbe, zwischen streng konstruierter und gestisch expressiver Form, der sich bis in die Moderne verfolgen lässt.
Wirklichkeiten
Nach vielen Jahrhunderten, in der sich die Kunst immer an der sichtbaren Welt orientiert hatte, löst sie in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts diese Bindung und rückt zunehmend ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten von Komposition, Form, Farbe und Material in den Blick. Von verschiedenen Seiten erschließt die Kunst eine Welt jenseits der sichtbaren Wirklichkeit: Ein Weg, hier u. a. vertreten von Franz Marc und dem „Blauen Reiter“, führt von der Natur, von organischen abstrahierenden Formen zu einer Autonomie der künstlerischen Form. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet dies eine Fortsetzung in der Konzeptkunst, etwa bei Sol LeWitt. Die (hyper-)realistische Figuration bleibt stets eine künstlerische Option – etwa in der Pop Art mit Duane Hanson. Der Surrealismus schließlich präsentiert sich oft im Gewand der gegenständlichen Welt, öffnet jedoch Fenster zu Traumwelten jenseits der sichtbaren Wirklichkeiten. Die „Capri-Batterie“ von Joseph Beuys verbindet Fantasie und Realwelt, Natur und technische Zivilisation. Zitrone und Glühlampe ähneln sich in der Form, die Natur erscheint als Form- und Energiegeber für die technische Zivilisation (theoretisch funktioniert die Zitronensäure tatsächlich als elektrische Energiequelle). Und gleichzeitig spendet die Glühlampe Licht und Wärme, wie sie auch die Zitrone als Frucht des Südens, aber auch als Symbol einer künstlerischen Suche nach Sehnsuchtsorten verkörpert.
Geschichte(n)
Eine der wichtigsten Eigenschaften und Funktionen von Kunst ist das Erzählen von Geschichte und Geschichten. Die Themenbandbreite reicht von der christlichen Ikonografie über Themen der Welt- und Zeitgeschichte bis hin zu ganz persönlichen Erlebnissen. Marc Chagall und Adolf Hölzel stellen religiöse Themen wie etwa die Anbetung der Heiligen Drei Könige oder die Geburt Christi dar, Max Beckmann kleidet sein persönliches Schicksal im amerikanischen Exil in die biblische Parabel vom verlorenen Sohn. In unterschiedlichster Art und Weise erzählen Künstler*innen Geschichten von Leben und Tod James Ensor gibt inmitten der blühenden Blumenpracht mit dem Totenkopf ein Memento mori. Alfred Hrdlicka ruft mit seiner Skulptur die legenden-umwobene Geschichte des Massenmörders Fritz Haarmann (1879-1925) aus Hannover wach, der einen Tiefpunkt menschlicher Existenz markiert. Adolf Hölzels Szene der „Anbetung“ stellt ein Heilgeschehen als Erlösung aus solchen Abgründen der Schuld dagegen. Wilhelm Sasnal versucht eine Annäherung an die traumatische NS-Geschichte aus heutiger Zeit, indem er das Konzentrationslager Maidanek mit seinem Fahrrad besucht. Marlene Dumas‘ Bilder der verlorenen, ausgelöschten Familienangehörigen beziehen sich auf den ersten Irakkrieg unter George Bush. Alice Musiol zeigt ein Spielfeld, auf dem offenbar zu viele Spielfiguren stehen – und suggeriert, wie aus dem Spiel gesellschaftlicher Ernst werden kann.
Natur
Als Reaktion auf die Industrialisierung und die daraus resultierenden schlechteren Lebensbedingungen in den Städten entwickeln sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von lebensreformerischen Bestrebungen, deren Ziel ein neues Selbstverständnis des Menschen im Umgang mit der Natur ist. Für die Expressionist*innen wurde die Natur zum Ausdrucksträger freier emotionaler Erfahrungen. Sie wollten mit ihren Naturbildern das sinnliche Erleben der Landschaft als Gegenbild starrer gesellschaftlicher Konventionen vermitteln. Natur ist auch in den gegenwärtigen künstlerischen Auseinandersetzungen Motiv- und Ideengeberin für zahlreiche Künstler*innen, die sich mit dem Dialog zwischen Mensch und Natur im Anthropozän, dem Zeitalter extremer menschlicher Eingriffe in das Ökosystem der Erde, beschäftigen. Julia Schmid verbindet ihre minutiös gemalten Pflanzenbilder mit präzisen topografischen Aufzeichnungen. Julian Charrières und Julius von Bismarcks Videoaufnahmen entstanden im radioaktiv verseuchten Umfeld von Tschernobyl. Sie zeigen die Welt aus der vermeintlich unschuldigen, vormenschlichen Perspektive eines Tieres und zeugen gleichzeitig von einer zivilisatorischen Apokalypse.
Lebensräume
Seit der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert gerät der zivilisierte Raum als Gegenwelt zur Natur in den Blick der Kunst. Hans Purrmann inszeniert den Gegensatz von Zivilisation und Natur als Blick durch das Fenster. In Umberto Boccionis Schlüsselbild der Moderne „Die Straße dringt ins Haus“ blickt eine alte Frau vom Balkon auf die neue, moderne Großstadt, die wie ein Tsunami von Tempo und Dynamik über sie hereinbricht; August Mackes „Großes helles Schaufenster“ zeigt die moderne Warenwelt. Das in der Kunst gespiegelte Spektrum der vom Menschen gestalteten und bewohnten Lebensräume ist weit: Geometrische, auf abstrakten Schemata beruhende Strukturen aus Moderne-Bewegungen wie Kubismus, Bauhaus oder de Stijl (u. a. Fernand Léger) finden sich ebenso wie organische, an die Natur erinnernde Strukturen etwa von Paul Klee oder Max Ernst. Die vom Menschen gestalteten Lebensräume berühren auch religiöse Aspekte, zum Beispiel bei Karl Schaper.
Große Gefühle
Die Kunst ist Ausdrucksplattform, Spiegel oder Seismograf für alle menschlichen Empfindungen, für große Gefühle im Positiven wie im Negativen: Freude und Liebe sind ebenso Thema wie Angst und Gewalt. Die zwiespältigen Facetten von Liebe und Begehren sind zentrales Thema bei Edvard Munch und Emil Nolde. Pablo Picasso stellt sich selbst als Opfer in Form eines Hahns dar, der von einer aggressiven Katze gerupft wird – Hintergrund ist seine private Situation im Entstehungsjahr des Bildes, der Bruch mit Françoise Gilot. Niki de Saint Phalle zeigt die „Braut“ an der Schwelle zwischen kindlicher Unschuld und Bedrohung durch männliche Gewaltinstrumente, in „Portrait of my Lover“ dreht sie den Spieß um und präsentiert ihren Liebhaber als Zielscheibe. Männliches Aggressionsverhalten ist Thema bei Bruce Naumans „Double Slap in the Face“. Arman lässt in „Colère Suisse“ seinen Hass auf die Schweizer Kontroll- und Sicherheitsmentalität in der Explosion eines Stilllebens freien Lauf
Gesichter
Das Bildnis des Menschen ist eines der ältesten Motive der Kunst überhaupt und nahezu über alle Zeiten und Kulturen hinweg bis heute ein wichtiges Motiv. In der Darstellung des Gesichtes lassen sich Eigenarten und Charakterzüge eines Individuums ebenso darstellen wie Facetten der Gesellschaft. Zeitstile wie Kubismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit oder Pop Art spiegeln sich in den Porträts ebenso wie politische und soziale Verhältnisse. Die Darstellungen reichen von starker Reduktion und Stilisierung bis hin zur Abstraktion etwa bei Alexej von Jawlensky und auf der anderen Seite extrem wirklichkeitsgetreuer Darstellung etwa bei Christian Schad oder Franz Gertsch. Otto Dix zeigt seine Eltern als harte, ausgezehrte Arbeiter, Christian Schad präsentiert in der gleichen Zeit „Lotte“ als Glamour Girl der Goldenen Zwanziger Jahre. Das menschliche Gesicht erscheint als Maske (Julio González), als verschwommene und unscharfe Erinnerung aus der Vergangenheit (Gerhard Richter) oder als nüchtern, streng und ungeschönt arrangiertes Bild der Gegenwart (Thomas Ruff).
Das Sprengel Museum Hannover feiert mit „Elementarteile“ das 50-jährige Jubiläum der Schenkung Bernhard und Margrit Sprengel sowie das 40-jährige Bestehen des Museums. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog.