RETROSPEKTIVE
1.8. BIS 1.11.26
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Otto Gleichmann (Mainz 1887–1963 Hannover) zog es nach dem Ersten Weltkrieg nach Hannover, wo er bis zu seinem Tode lebte. Er zählt zur jüngeren Riege des deutschen Expressionismus und war Mitglied der Hannoverschen Sezession. Trotz vielseitiger Erfolge während der 1910er und -20er Jahre ist er heute nahezu vergessen. Es gilt daher, einen bedeutenden Maler und Zeichner, der über das lokale Hannover weit ausstrahlte, wieder zu entdecken.
Gleichmanns Werk ist getragen von humanitärem Pathos und feinster Sensibilität, sein Hauptthema ist der Mensch. Seine stilisierten, unverkennbaren Gesichter mit den groß aufgerissenen Katzenaugen zeugen von den unmittelbar erlebten Schrecknissen des 1. Weltkrieges. Seine verwunschenen Gestalten durchstreifen dicht gedrängte Städtelandschaften oder vergnügen sich in Varietés und Zirkussen. Menschliche Beziehungen wie Einsamkeit und Nähe werden in vielfigurigen, psychologisch erfassten Gruppenbilden ausgelotet. Sein Repertoire konzentriert sich sein Leben lang auf Figurenbilder in vielfältigen Konstellationen, vereinzelt kommen Tierbilder, hier vor allem Katzen und Pferde, Blumenstillleben und wenige Landschaftsbilder hinzu. Insofern lässt sich die stilistische Entwicklung der einzelnen Motive zu einer neuen Eigenständigkeit über die fast 50jährige Schaffenszeit hervorragend verfolgen: von der dunklen, leidenden Kreatürlichkeit der expressiven Phase hin zu einer gelösteren, weniger bedrohlichen, in sich ruhenden Verinnerlichung ab Mitte der 1920er Jahre, und weiter zu einem aufgehellten, lyrischen, aber immer noch nervösen Duktus im Spätwerk der Nachkriegszeit. Hier verschmelzen Natur und Figur zunehmend und finden zu einer ganz eigenwilligen Freiheit von Linie, Farbe und Licht.
Aufgewachsen in Mainz, Straßburg, Erfurt und Bielefeld, studierte Otto Gleichmann von 1906 bis 1910 Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf, der Kunst- und Kunstgewerbeschule Breslau und der Kunstschule Weimar. Anschließend fand er eine Anstellung als Zeichenlehrer in Erfurt. Noch in Breslau hatte er die angehende Malerin Charlotte Giese kennengelernt, und das Paar heiratete 1915. 1915/16 war er als Soldat an der Front in Russland und Frankreich eingesetzt. 1916 bis 1918 verbrachte er im Kriegslazarett und im Militärdienst in Hannover, wohin die Familie seiner Frau gezogen war. In die Kriegszeit fällt auch seine erste Ausstellung im Mai 1917 im Kestner-Museum in Hannover und die Bekanntschaft mit dem expressionistischen Dichter Theodor Däubler. Zu dieser Zeit lernten die Eheleute Gleichmann auch Kurt Schwitters und die aufstrebende Kunstszene um die Kestner-Gesellschaft kennen, die sich in der Hannoverschen Sezession zusammenfand und regelmäßig ausstellte, ohne jedoch ein festes künstlerisches Programm zu haben. 1921 wurde Gleichmann Zeichenlehrer am hannoverschen Realgymnasium, wo er bis zu seiner Pensionierung 1947 tätig war. Die 1910er und 1920er Jahre waren für Otto Gleichmann und seinen Kreis äußerst fruchtbare und lebendige Jahre – Hannover war zu einem Zentrum der Avantgardekunst geworden. In Gleichmanns gastfreundlicher Wohnung, dem „Montmatre von Hannover“, traf sich die lokale Künstlerschaft mit überregionalen und internationalen Künstlern und Persönlichkeiten: u.a. waren Kandinsky, Klee, Jawlensky, Arp, Tzara, Lissitzky und Ozenfant zu Gast. Von Beginn an konnte Gleichmann in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen deutschlandweit und zum Teil auch im Ausland seine Werke präsentieren und sehr gut verkaufen. Namhafte Galeristen wie Flechtheim, Nierendorf, Garvens und Schames zeigten ihn regelmäßig. Eine lebenslange Freundschaft verband ihn auch mit dem Düsseldorfer Arzt, Sammler und Galeristen Hans Koch. Das frühe Porträt seines Freundes befindet sich heute im Sprengel Museum. 1932 richtete ihm die Kestner-Gesellschaft eine umfangreiche Gesamtschau aus.
In der Zeit des Nationalsozialismus war er weiterhin als Kunstlehrer im Schuldienst tätig und musste daher 1933 der NSDAP beitreten. 1936 wurde ein Ausstellungsverbot verhängt, 1937 seine Werke aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt und in der Ausstellung „Entartete Kunst“ verächtlich gemacht. Gleichmann litt sehr unter dieser Situation, er zog sich in seine innere Welt zurück und arbeitete weiter, ohne allerdings die Werke zu datieren. In der Nachkriegszeit konnte hatte er dank der Unterstützung seines Freundes Ferdinand Stuttmann, Direktor des Niedersächsischen Landesmuseums, schnell wieder Erfolge feiern. 1963 verstarb er in Hannover.
Die Ausstellung zeigt als Retrospektive 114 Werke von Otto Gleichmann aus allen Schaffensperioden, davon 45 Werke aus eigenem Bestand und 69 Leihgaben aus öffentlichen und privaten Sammlungen aus Deutschland und den Niederlanden. Zudem wird erstmalig das Werk seiner Frau Lotte Gleichmann-Giese (Aurich 1890–1975 Hannover) mit 13 Werken in größerem Umfang präsentiert. Ergänzt wird die Ausstellung durch 36 Werke anderer Künstler und Künstlerinnen aus seinem Freundeskreis und Umfeld, die zum Ende der 1910er und Beginn der 1920er Jahre in Hannover tätig bzw. deren Werke in Hannover ausgestellt waren.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Beiträgen von Claudia Andratschke, Katharina Herrmann, Nora Niefanger, Karin Orchard und Petra Wenzel.
Kuratiert von Karin Orchard, unterstützt von Nora Niefanger
ERÖFFNUNG
Freitag, 31.7.26, 19.00 Uhr
Eintritt frei

